Ein Beitrag der Schülerinnen und Schüler der Begabtenförderung Deutsch
Unserer Meinung nach kommt kreatives Schreiben und insgesamt kreative Beschäftigung mit Literatur und Sprache im regulären Unterricht zu kurz. Im Kurs Begabtenförderung hat es Platz für genau das.
Wer Begabtenförderung hört, denkt wahrscheinlich an etwas ganz anderes. Es klingt nach noch mehr Zuhören und strebsamem Arbeiten. Das ist schade, denn darum geht es hier überhaupt nicht. Schade finden wir auch, dass nicht nur der Name elitär wirkt, sondern auch die Teilnahmebedingungen zum Kurs. Wir wünschten uns, dass nicht nur die besten Schüler*innen aus dem zweiten P teilnehmen können, sondern einfach alle, die Interesse haben. Freude am kreativen Schreiben oder an Literatur haben ja eigentlich nichts mit Noten zu tun.
Was machen wir nun konkret in diesem Kurs mit dem irreführenden Namen? Besonders toll ist, ist dass wir je nach Interesse die Inhalte und auch die Form, in der sie durchgenommen werden, selber wählen und anpassen dürfen. Ausserdem ist auch die persönlich investierte Zeit neben der Teilnahme selbst entscheidbar.
Wir haben uns dieses Jahr bis jetzt für Themen wie kreatives Schreiben und berühmte Literatur-Klassiker entschieden. So haben wir zum Beispiel an der „Basler Eule“ teilgenommen, einem Schreibwettbewerb für Jugendliche. Ausserdem sind wir zusammen ins Theater und haben „Die Physiker“, ein Stück von Friedrich Dürrenmatt, besucht und danach unsere Meinungen und Interpretationen zum Stück diskutiert.
Das diesjährige Thema des Schreibwettbewerbs der Basler Eule lautete »Die letzten Stunden». Wir alle haben dazu eine eigene Kurzgeschichte eingereicht. Wir hoffen, dass sie euch gefallen…
Die letzten Sekunden
Es war kalt. Eiskalt. Es war nicht kalt draussen, sondern in mir drinnen. Ich sah, wie das winzige Fenster beschlug und mir wurde unwohl. Ich fühlte meine Angst und Unsicherheit. Noch einige Tage davor hatte ich mich darauf gefreut. Ich hatte Monate, nein Jahre auf diesen Moment hingearbeitet.
Es war heiss. Extrem heiss. Ich stand auf dem Fensterbrett meines Hochhauses. Hinter mir loderte ein gewaltiges Feuer. Unten stand die Feuerwehr. Ich hatte Angst. Sie riefen mir zu, dass ich auf 10 springen sollte, aber ich wollte nicht springen. Noch ein paar Tage davor hatte ich mich gefreut allein zuhause zusein und die ganze Ze…
Zehn…
Oh Gott. Es ging los. Noch nicht jetzt. Nur noch nicht jetzt. Davor hatte ich mich gefreut, die Stunden bis zum Start gezählt. Aber jetzt wenige Sekunden vor dem Start.
Ich wollte nicht springen. Nicht jetzt. Wären nur meine Eltern hier. Bald müsste ich springen. Ich…
Neun...
Mir lief ein Schauer über den Rücken. Ich wollte nicht sterben. Nicht hier. Nicht jetzt, an diesem Ort, der so grauenvoll war wie kein anderer. Es stank nach Maschinen und ich hustete gereizt. Mein Mund war trocken und ich schwitzte.
Die Flammen stachen auf mich ein der Rauch umhüllte mich, während ich versuchte ein bisschen frische Luft zu schnappen. Meine Augen begannen zu tränen. Ich wollte nicht sterben. Nicht in einem lodernen Feuer. Nicht hier und…
Acht…
„Es wird bestimmt toll“, ging mir durch den Kopf. Am Anfang freute ich mich darauf. Wenn ich von meiner Mision zurückkam, wäre ich… Wenn ich überhaupt zurückkommen würde. Wenn ich nicht sterben würde.
„Los spring einfach“, versuchte ich mir einzureden. Es macht bestimmt Spass, ich meine, wer kann schon erzählen, dass er aus dem 10. Stock eines brennenden Hauses auf ein Mini-Luftkissen gesprungen ist. Wenn ich das dann überhaupt noch erzählen könnte. Wenn ich mir nicht alle Knochen gebrochen hätte oder schlimme…
Sieben…
Sieben. Noch sieben Sekunden. Manchmal können Sekunden wie Stunden sein, wenn sich die Zeit hinzieht, doch jetzt, jetzt gerade wünschte ich mich mehr Zeit. Zeit mit meiner Familie. Zeit… Das könnte meine letzte Zeit sein.
In 7 Sekunden würde ich springen. Springen müssen. Jeden Moment. Jede Sekunde. Aaahh. Die Gardine fing Feuer. Hilfe, oh Gott, schnell! Ich riss die Gardine runter und warf sie aus dem Fenster. Sie fiel hinunter. Ganz langsam und hinterlie…
Sechs…
Ich sollte ruhig bleiben und mich auf meine Mision vorbereiten. So wie man es mir beigebracht hatte. Ich schloss die Augen und holte tief Luft. Es brachte nichts aufgeregt oder ängstlich zu sein und tief in mir wusste ich das auch. Bald würde sie starten und ich müsste meine Mision erfüllen. Die Getriebe würden gezündet werden und ab geht’s.
Ich musste ruhig bleiben und mich konzentrieren, wenn ich falsch aufkommen würde, könnte ich mir alles brechen. Ich schloss die Augen, einatmen, ausatmen. In nicht einmal sechs Sekunden würde ich springen. Ich musste, sonst würde ich sterben, aber ich hatte Angst. Ich traute mich nicht. Ich m…
Fünf…
Was. Fünf, die Hälfte. Die Hälfte. Ich war zu jung. Zu jung. Ich wollte noch nicht… „Ruhig, ruhig“, redete ich mir selbst ein. Einatmen. Ausatmen. Was waren noch mal die Anweisungen für den Start gewesen? Was musste ich tun? Ich, ich hatte es vergessen.
Die Hälfte der Zeit war um. Ich sah hinunter und taumelte. Es war hoch. Zu hoch. Ich hielt mich am metallenen Fensterrahmen fest und zog meine Hand kurz danach wieder weg. Wenn mir noch doch nur jemand helfen könnte. Unten standen die rettenden Feruerwehrmänner mit dem Luftkissen…
Vier…
Anschnallen. Geräte checken. Ohrschutz an. Ja das war es. Ohrschutz. Wo war mein Ohrschutz? Da, schnell, aufsetzten. Oh nein. Ich hätte mich noch vertragen sollen. Vertragen mit meinen schlimmsten Feinden. Es hätte oder war meine letzte Chance gewesen.
Nur nicht nach unten schauen. Nur nicht nach unten schauen. Der Qualm biss mir in der Nase. Was hatte ich noch mal über Feuer gelesen. Ich hustete und mir wurde schwummrig. Schnell zog ich mir das T-Shirt über die Nase und…
Drei…
Oh nein, oh nein. Nicht jetzt. Ich will…Ruhig bleiben! Geniessen! Geniess den Moment! Die Luft war stickig, aber sie roch auch nach Erfolg. Wenn ich zurückkam, stände ich in allen Schulbüchern. Der 1. Mann der, den Mars betreten hat
Ich will nicht springen. Ich will nicht sterben. Schnell schnappte ich mir eine Legofigur, die neben mir auf dem Fensterbrett stand. Ich brauchte ein Andenken. Ich weiss nicht warum, aber diese Figur gab mir Mut und die Entschlos…
Zwei…
Ich würde das schaffen, danach wäre ich reich. Ich, ich! Vertrau der Technik, redete ich mir ein. Aber ein einziger noch so kleiner Fehler und ich wäre tot. Tot! Nicht mehr da, jetzt, einfach so und sie könnten mich nicht einmal begraben. Reiss dich zusammen! Denk dran, die Hoffnung stirbt zuletzt.
Ich schaff das, ich schaff das. Komm, komm! Aber was war, wenn ich falsch aufkämen würde oder daneben landen würde. Nein, man kann nicht negativ denken und Positives erwaten. Das klappt schon. Langsam griff ich in meine Hosentasche und zog die Figur raus…
Eins…
Ich hatte Angst. Pure, eiskalte Angst.
Und dann sprang ich.
Anina
Die Klippe
Die starken Wellen vom dunkelblauen Meer schlugen stark gegen die Klippen. Der brausende Wind zerrte wütend an meinen Haaren.
Ganz tief unten in meinem Herz blieb ein schwerer Stein, der sich nicht bewegen liess. In meinem Kopf schwirrten ohne Ende gedanken herum.
Ich muss es tun. Ich bewegte mich langsam näher. Näher an den Abgrund. Näher an das Ende.
…
Ein Licht schimmert zwischen den dichten Bäumen hervor. Ein helles Fenster, dunkelbraunes, abgenutztes Holz, ein schiefes Dach, das Vogelhäuschen im Garten. Unsere Waldhütte.
„Macht vorwärts Kinder, bald wird es dunkel“. Meine Mutter, einen Koffer in der Hand. Jemand nimmt mich an der Hand und führt mich in die Hütte. Ich kenne diese Hand. Als ich hochschaue, sehe ich sein Gesicht: Rex. „Dieses Zimmer nehme Ich!“, ruft er triumphierend aus und lässt seine Tasche neben das Bett fallen. „Packt schnell eure Sachen aus, bald gibt’s was zu essen“, klingt die Stimme meines Vaters aus dem Hintergrund. Als ich die Tür zu meinem Zimmer öffne, leuchten mir die warmen Strahlen der untergehenden Sonne durch ein rundes Fenster entgegen und beleuchten mein ganzes Gesicht. Es ist alles so, wie es war. Damals.
Vielleicht war das alles ein Traum. Vielleicht ist nichts passiert.
Jetzt sitze Ich mit meiner Familie im Esszimmer. Der Geruch von Feuer und geschmolzenem Käse füllt das Zimmer mit einer gemütlichen und beruhigenden Stimmung. Gegenüber von mir ist Rex, auf meiner linken Seite meine Mutter und mein Vater auf der anderen. Wir lachen alle. Sogar ich. Ich weiss aber nicht wieso. Wie durch ein Fernglas sehe ich alles vor mir. „Wer will noch mehr Pizza?“ fragt mein Vater. Ich und Rex antworten synchron: „Ich!“. Papa holt noch eine mit Käse bedeckten Pizza aus dem Ofen. Ich fühle Rex’s Arm an meinem Arm. Ich fühle die wärme des Feuers.Die Pizza riecht himmlisch. Ich nehme einen Biss…
…
Die Wellen peitschten immer stärker gegen die Klippen. Meine Fäuste ballten sich. Ich versuchte, mich näher an das Ende der Klippe zu bewegen. Langsam, ganz langsam bewegte ich mich auf den Rand der Klippe zu. Es begann stark zu regnen. Bald würde es stürmen. Ich war jetzt ganz nah. Ganz nah am Abgrund. Ganz nah am Ende.
…
„So, Kinder, jetzt aber ab ins Bett! Morgen machen wir einen Ausflug im Wald“ kündigt meine Mutter an. Ich folge meinem Bruder die Treppe hinauf. «Erzählst du mir noch eine Geschichte?», fragt er mit Blick über die Schulter. «Nein, ich bin müde.», gähne ich. „Darf ich bei dir im Zimmer schlafen“, bettelt er beim Zähneputzen. „Nein, ich will in Ruhe schlafen.“, murre ich und spucke aus. Er sieht traurig aus und schlurft in sein Zimmer.
Nein! Komm zurück! Natürlich eine Geschichte! Natürlich in meinem Zimmer!
Aber zu spät.
…
Meine durchnässten Kleider klebten an meinem Körper. Die ersten Blitze zuckten im Himmel, und das Wasser unter mir war langsam nicht mehr ein ruhiges hellblau, sondern ein tosendes, wildes dunkelblau.
…
Ich lege in meinem Bett und schaue aus meinem Fenster. Am Himmel leuchten keine Sterne mehr. Es ist jetzt ein unendlich tiefes dunkelblau. Ich habe durst und tapse durchs dunkle Haus in die Küche. Meine Eltern sind in der Küche am Geschirr abwaschen in einem Gespräch vertieft, weshalb sie die
Tornado-Warnung auf dem Fernseher nicht sehen. Keiner von uns achtet auf den Fernseher, der im Hintergrund läuft. Keiner von uns hört die Warnungen.
Nein! Hört zu! Passt auf! Rennt weg!
Aber zu spät.
…
Wieder rücke Ich näher an das Ende der Klippe. In meinem Kopf tobte der Sturm so wild wie ausserhalb. Jetzt bin Ich fast da. Fast am Abgrund. Am Ende.
…
Ich wache kurz nach dem Einschlafen auf. Das Erste, was Ich höre, ist und Schreien. Die Stimme meines Vaters ertönt: „Wach auf, wir müssen fort, schnell!“. Seine Stimme klingt panisch. Er dreht sich zu mir um. „Hol schnell deinen Bruder!“ Ohne nachzudenken sprinte den finsteren Gang entlang ins Zimmer von Rex. Schon bevor Ich seine Zimmertür aufstosse, schreie ich: „Rex! Wach schnell auf! Wir müssen fort! Schnell-“
Krach.
Ein riesiger Baum knallt durch das Dach und reisst das ganze Haus mit sich.
Was danach genau passiert ist, weiss Ich nicht mehr. Ich weiss nur noch, wie Ich in einem Haufen von zerbrochenem Holz und zertrümmerten Möbelstücken aufwache. Mein ganzer Körper tut weh, und mein Kopf dröhnt vor Schmerzen, Ich muss aber aufstehen, um zu sehen, wie es den anderen geht. Ich schaue mich um. Es stürmt nicht mehr. Die Vögel zwitschern und das Sonnenlicht bricht durch die Bäume hervor. Ich kann aber nichts erkennen, weil meine Sicht so verschwommen ist. Als sie wieder aufklart, schaue Ich mich um. Zerbrochenes Holz, ruinierte Möbelstücke… jemand, der unter einem Haufen liegt. Ich erkenne die Person von weitem nicht. Sie bewegt sich gar nicht. Ich laufe vorsichtig der Person entgegen, und mein Herz hämmert in meinen Ohren. Endlich bin Ich nahe genug, um die Person zu identifizieren. Es ist ein Kind. Ein Junge, mit braun-blonden Haaren. Diese Person erkenne Ich. Rex. Ich bücke mich und überprüfe seinen Puls.
Er atmet nicht.
Hätte er in meinem Zimmer geschlafen.
Aber zu spät.
…
Je länger Ich hier stehe, desto klarer wird mir, dass keiner mich aufhalten wird. Es stürmt unglaublich stark. Mir machte es aber nichts aus. Keiner wird mich davon abhalten, zu springen. Wenn Ich es Rex erlaubt hätte, in meinem Zimmer zu schlafen, wäre er noch da. Es ist alles meine Schuld. Jetzt bin ich da. Beim Abgrund. Beim Ende. Ich atme tief ein.
Platsch.
Ehlaa
Dunkelheit
Dunkelheit. Um mich herum wirkt alles dunkel und gedämpft. Alles, was ich wahrnehmen kann, sind Umrisse von unbekannten Menschen. Ich horche sorgfältig, sie äussern sich durch kaum erkennbare Worte. Alex, dass schreien sie jetzt schon ewigs lange. Mir ist schwindelig. Wieso befinde ich mich hier und wer sind diese Leute. Tausende von Fragen gehen durch meinen Kopf. Mir ist schlecht. Nach einer halben Ewigkeit verändert sich plötzlich alles, mein Kopf tut unerträglich weh und da fiel mir es in die Augen, ein verschwommenes Bild, klein aber doch leichterkennbar. Es wurde immer deutlicher zu sehen. Es war eine Strasse zu sehen. Ein kleines Auto stand da und rundherum befand sich nichts ausser Blut und etwas anderes. Auf der Strasse liegend, da bemerkte ich, dass dies ich war. Ich lag da, bewegte mich nicht und ich sehe aus. Mein Körper lag da, verkrüppelt und verbrannt. Blasse Erinnerungen habe ich aber. Schon wieder Dunkelheit.
Es war ein ganz normaler Tag. Ich sass in meinem Büro und zerbrach mir meinen Kopf. Grosse Mengen meiner Gedanken überfluten mich und meine Kopfschmerzen, welche ich schon seit einer Stunde habe, verstärken sich nur noch. Ich konnte nur an zuhause denken, meine Frau und meine Kinder. Sie umarmen, den warme Duft von zuhause einatmen und einfach nur entspannt sein. Dies funktioniert gerade leider nicht. Mein Vater lässt mich in seiner Firma arbeiten, um zu schauen, ob ich wirklich würdig bin, Firmenchef zu werden. Unzählige Emotionen überfluten mich, wenn ich auch nur an ihn denken muss. Ich merke, wie mir das Blut in den Kopf schiesst. Dieser Trottel, bemerkt er denn nicht, dass ich hier gar nicht arbeiten möchte? Und schon wieder klingelt das Telefon auf meinem Tisch, wieder ein Patient, was will der nur? Es war schon 22:00Uhr und ich war immer noch nicht fertig. Erschöpft, müde und lustlos machte ich mich auf den Weg nach Hause. Ich kam endlich an, ich betrat das Haus. Meine Famillie, da sitzen sie. Meine Frau, ich kann getrocknete Tränenspuren auf ihren Wangen sichten. Ihr Gesicht ist verzerrt und ihre Fäuste geballt. Sie steht auf, langsame Schritte nimmt sie auf mich zu. Ich schliesse meine Augen, nichts.
Vorsichtig machte ich sie auf und beobachte, wie meine Frau an mir vorbeigeht, auf die Tür zu. Ein lauter Knall, sie schletzt die Türe hinter ihr zu, durch das kleine Fenster betrachte ich mit einem seltsamen Blick wie sie das Haus verlässt. Ich spüre wieder ein neues Gefühl, etwas
Unbekanntes. Bedauern...?
Das Auto sass in Flammen, meine Frau!! Ich bewegte mich auf das Auto zu. Nein, nicht jetzt.
Meine Gedanken rissen mich hin und her, ich schleppte mich durch die Flammen, ich konnte
wahrnehmen, wie mir das heisse Feuer die Haut ätzte. Ich konnte nicht denken und bevor ich es auch nur merkte, wurde alles dunkel. Kurz bevor ich die Augen schliesse, bemerkte ich sie. Meine Welt stürzt hinunter. Mein Atem bleibt im Hals stecken und trotz dem Schmerz ist, dass einzige welches ich visioniere, meine Frau liegend im hinteren Teil des Fahrzeugs. Lass sie überleben! Alles verblasste langsam. Nichts war zu sehen. Nein, bitte nicht! Wieso. Dunkelheit.
Heisse Tränen flossen dem kleinen Jugen über die Wangen, sein kleines Herz klopfte laut in der Brust. Die angenehme Stille wird durch das Schluchzen des Jungen durchbrochen. Er lässt den Kopf hängen. Unzählige Tränen fanden ihren Weg zu dem prachtvollen Teppich auf dem
Dachboden. Gerührt ist er, zutiefst gerührt. Das alte Buch, welches in seinen Händen schwankte, fiel mit einem lauten Geräusch zu Boden. Der kleine Junge versucht sich verzweifelt zu beruhigen, er murmelt e vor sich hin, dass dies nur eine erfundene Geschichte sei und niemals wahr sein könnte. Und trotzdem sammelte sich Trauer und Mitleid in seinem Kopf, welches für den alten Mann in dieser Geschichte bestimmt war. Seine Gedanken wurden durch den lauten Schrei seiner Mutter durchbrochen. „Es gibt Essen!“, rief sie laut durch das Haus. Darauf antwortet e er, dass er bald komme. Doch er weiss nicht, dass genau in diesem Moment in Asien, ein kleiner Junge namens Alex auf die Welt kommt.
Clare
Was passiert
Ich schlendere los. Der Schulsack fühlt sich schwer auf meinen Schultern an, als lägen tausende von Steinen darin. Man muss immer so viele Bücher mitschleppen. So mache ich mir den Rücken ja ganz kaputt. Der Fluss rauscht im Hintergrund unendlich laut. Einmal bin ich in diesem Fluss schwimmen gegangen. Wir haben Wasserball gespielt. Mein Schulweg ist lang, es fühlt sich wie ein nie endender Weg an. Fast so, als würde er von hier bis zum Mond und wieder zurück reichen. Es stinkt nach frischem Teer, genau wie wenn die Strasse neu geteert wird. Als ich aufblicke, bemerke ich die Bauarbeiter, welche die Strasse tatsächlich erneuern. Als ich noch klein war, wollte ich immer Bauarbeiter werden. Wenn ich mich daran zurückerinnere, wie meine Grosseltern mit mir stundenlang den Baggern zuschauten, wie sie buddelten, wird mir ganz warm ums Herz und es breitet sich ein Lächeln auf meinem Gesicht aus. Ich senke den Kopf wieder und schleppe mich weiter. Trotzdem, meine Augen fallen mir immer wieder fast zu und mein Kopf ist schwer wie Blei. Ich fühle mich wie ein Delfin im Halbschlaf. In Gedanken versunken stelle ich mir meinen Schulweg vor. Er ist langweilig, man kommt an nichts vorbei, was auf irgendeine Art interessant wirken kann. Erst gerade aus, dann links wieder ein Stückchen gerade aus, dann rechts und gleich nochmals links dann bin ich gezwungen die Hauptstrasse zu überqueren. Hier sind schon viele Kinder verunfallt. Vielleicht waren diese auch selbst schuld. Ich meine, sie hätten besser aufpassen sollen. Andererseits fahren die Autos da fast 60 km/h und trotzdem gibt es keinen Zebrastreifen. Ich lache über den Namen, er gefällt mir. Passend finde ich Zebrastreifen. Wenn ich über einen Zebrastreifen laufe, stelle ich mir vor, es ist ein echtes Zebra und ich muss darauf balancieren. Ich schaue auf meine Füsse. Das Weiss der Schuhe blendet mich, es schmerzt in den Augen. Denn obwohl die Sonne nicht scheint, leuchten meine Schuhe wie Sterne. Jetzt atme ich den feinen Duft der Bäckerei ein, welcher in der Luft liegt. Immerhin etwas Gutes auf meinem Weg. Es schmeckt nach frischem Brot. Das Wasser läuft mir im Mund zusammen, warm, bisschen feucht so wie es beim Grosi riecht. Ich bleibe stehen und nehme ein paar tiefe Atemzüge. Ein Lächeln haftet nun standhaft auf meinem Gesicht. Ich hüpfe fast und meine Hände fühlen sich auch nicht mehr so kalt an. Im Café nebenan trinkt jemand eine heisse Schoggi, in den Skiferien trinke ich manchmal eine. Die beste die es gibt. Man kommt von der Kälte rein, friert am ganzen Körper und wärmt sich dann die Hände an der Tasse. Der Fluss rauscht angenehm in meinen Ohren, so wie wenn es regnet. Als ich weiter schlendere, erinnere ich mich plötzlich an die letzte Geografie Lektion. Ich hatte Hausaufgaben. Sehr viele. Ein Schauer überfährt mich. Mir wird heiss und kalt zugleich. Ich vergesse nie etwas. Wirklich nie. Wieso gerade heute. Ich beginne zu rennen. Sprinte fast. Ich verlangsame mein Schritttempo wieder. Am Schluss ist es vielleicht doch nicht ganz so schlimm. Nun ist mir die Lust auf Schule vergangen. Wie schön wäre es zuhause bleiben zu können. Einen Grund zu haben nicht zur Schule gehen zu müssen. Einfach umzukehren, so wie andere es tun. Doch stattdessen tragen mich meine Beine weiter in Richtung Schule. Ohne dass ich es entscheide. Ich möchte nur noch na….
27.01.1998
An der Mühlbachstrasse in Sonnenberg gab es in diesem Jahr bisher schon drei Unfälle mit Kindern. Nun auch einer mit tödlichen Folgen. Eine Jugendliche wurde auf dem Weg zur Schule von einem Auto erfasst und verstarb noch am Unfallort. Wann unternehmen die Behörden endlich etwas dagegen?!
Aurelia
Denken, bevor es zu spät ist
So schön. Friedlich und bewegend. Ein Strang zieht mich nach vorn. Bevor meine Hand selbst die Türklinke erreicht hat, läuft etwas Nasses und Kaltes über mein Gesicht. Keine Träne. Es kam von den Wolken. Zuerst kompakt und fein, dann jedoch wässrig. Ich stampfe durch die rutschigen Strassen in das Treppenhaus des kleinen Wohnhauses am Ende der Strasse, bis ich ein quietschendes Geräusch wahrnehme. Ich bin aber schon daran gewöhnt. Jeden Tag in der Woche, nur ab heute länger nicht mehr. Auf meinem Bett sehe ich, dass ein Paket auf mich wartet. Ich öffne es vorsichtig und plötzlich umhüllt ein aufregendes Gefühl meinen Körper. „In Liebe deine Granny.“ Endlich wieder ein neues Buch! Ich setze mich auf mein kuscheliges Bett und blättere die Seiten um. „Das unbewusste Ende“, wurde auf der
Titelseite chaotisch darauf gekritzelt. Um was wohl die erzählte Geschichte handelt, fragte ich mich. Herzklopfen durchfliesst meinen Körper und ich entschied, direkt in die Geschichte einzutauchen.
Ein ganz normaler Herbsttag war angebrochen. Die Wärme kam durch die Fenster ins ganze Haus. Ich schlich die Treppe runter ins Esszimmer. Mein Frühstück stand schon bereit. Ich packte mein Schulsack und machte mich auf den Weg zur Schule. In dem Moment, als ich die Tür schloss, wusste ich jedoch noch nicht, was mich an dem Tag noch alles erwarten würde. Ich spitzte meine Ohren. Stille. Nur der Wind, der die bunten Blätter an den Bäumen zum Rascheln brachte. Unbewusst bewegte ich mein Bein nach vorne, als ich plötzlich etwas hörte. Es näherte sich und wurde immer lauter. Mein Herz fing an, zu schlagen. In meinem Kopf sammelte sich ein See an Gedanken. Ich verlor den Boden unter meinen Füssen, als ich mich umdrehte und etwas Dunkles am Himmel sah.
Meine Augen können sich nicht vom Text lösen. Ich bin an die Wörter gefesselt. Vergeblich versuche ich meine Augen in den Griff zu bekommen. „Kapitel 2“, steht auf der nächsten Seite. Grandma kennt mich einfach zu gut, dass sie weiss, dass mir eine Geschichte wie diese gefallen würde. Das war gerade mal ein Kapitel und die Spannung setzte sich schon voll durch. Ich nehme mir ein Kissen und lege es hinter mein Rücken, an den Balken meines Bettes. Mein Arm sucht nach meiner Decke. Ich ziehe sie über meine Schultern, damit ich mich gut einmummeln kann. Als letztes mache ich meine Lichterkette, die um mein
Fenster herumhängt, an. Mein Blick wechselt nach draussen. Ich erinnere mich an die am Anfang angenehm ruhige Herbststimmung im Buch. Ich wohne in einer Grossstadt, in der es nie so still sein kann. Autos fahren auf den Strassen, Touristen besichtigen die Stadt oder Flugzeuge fliegen über den Himmel. Es gibt immer etwas, dass wir irgendwie wahrnehmen können. Sei es nur ein Geruch, ein Licht oder ein Geräusch. Ich entschliesse mich wieder auf das Buch zu fokussieren und beginne deshalb das nächste Kapitel zu lesen.
Ich konnte keine wirkliche Form erkennen. Während ich in den Himmel starrte, merkte ich, wie ein störender Geruch durch meine Nase strömt. Kratzig, verwirrend und dreckig fühlte es sich an. Meine Beine konnten sich nicht mehr gerade halten. Sie fühlten sich zittrig an. Meine Füsse konnten sich nie ganz am Boden halten. Die Stille in meinen Ohren war verschwunden. Ich hörte nur noch Schreie. Ich konnte mich nicht mehr ordnen. Was passierte gerade?
Ich muss kurz von der Geschichte abweichen. Mich überfliegen viele Ideen. Mein Gehirn strängt sich an und überlegt, wie es wohl weitergehen würde. Was könnte wohl passieren? Nach kurzem Nachdenken weiss ich nicht mehr weiter. Ein Hauch voller Langweile gelangt in meinen Kopf. Meine Augen wenden sich in die Richtung meines Sessels und schliesslich auch auf das Paket, das ich dahin gelegt habe. Das Paket, das Grandma mir geschickt hat. Was war wohl ihre Idee. Warum hat sie mir dieses Buch zustellen lassen? Eigentlich frage ich mich sowas fast immer, bei einem Buch von ihr. Aber komischerweise bei diesem Exemplar noch ein wenig mehr.
Meine Haut zieht sich zusammen. Mir wird das erst überhaupt klar, als ich bemerkte, dass es ziemlich heiss geworden war. Ich blickte nach vorne und sah, dass das Gras und das darauf wachsende Gestrüpp plötzlich verwelkte. Auch die Wurzeln der zahlreichen und grossen Bäume haben langsam nachgegeben. Die Äste mit den schönen herbstfarbigen Blätter fielen langsam herunter. Bevor das letzte Blatt den aufgerissenen Erdboden berührte, stürzten erst die kleineren, dünneren Äste und gleich darauf auch die schweren und breiten. In dem kleinen, langen Fluss neben den Häusern veränderte sich auch was. Er vertrocknete. Das Wasser wurde langsam vom Untergrund aufgesogen. Die Fische plätscherten schwach auf und ab, als das Wasser ganz weg war. Die Entenfamilien wollten sich gerade an Land retten als…
… steht da bloss noch. Ohne etwas zu machen, bewegen sich meine Hände von ganz allein, schnell zur Buchkante. Sie blättern die nächste Seite um, die sich eigentlich rau anfühlen müsste, jedoch jetzt durch meine schwitzigen Hände, einen kleinen nassen Abdruck hinterlassen, der das Papier zu einer welligen Textur macht. Schnell blättere ich die Seite um und fang an oben weiterzulesen.
…als es passierte.
Ich blättere die nächste und letzte Seite um. Eine Minute voller Stille. Ich starre auf das Buch und bin vollkommen verwirrt. Ich will unbedingt wissen was da jetzt noch passiert. Ich denke kurz an Grandma und da fällt mir plötzlich ein, was sie jedes Mal zu mir sagte: «Selber denken. Nicht immer sind andere da, die das für dich übernehmen, sonst ist es zu spät.»
Mir fällt das Buch aus den Händen und ich lächle.
Melanie
Sonnenwärme
1
Ich stehe auf.
Aus dem Bett und auf die Yogamatte. Vielleicht sollte ich noch lüften? Ja. Yoga. Ein zwei Figuren und ich bin wach. Ich rieche an meinen Achseln. Duschen kann nicht schaden. Das Wasser ist warm und angenehm. Wie spät ist es eigentlich? Sieben. Ich sollte mich beeilen. Seit wann ist es eigentlich so kalt in meiner Wohnung? Oh, ich habe vergessen die Fenster zu schliessen. Ich ziehe Jeans und mein Lieblings T-Shirt an und schliesse alle Fenster. Jetzt sollte ich mich aber wirklich sputen. Rasch schlinge ich mein Müsli herunter, hole meinen Rucksack und ziehe meine Schuhe und meine Jacke im Rennen an. Wo habe ich jetzt nur meinen Schlüsselbund? Unter dem Sofa? Nein. Auf der kleinen Küchenablage? Auch nicht. Gefunden! Er ist in meinem Zimmer. Hastig schliesse ich die Türe. Manchmal hätte ich schon gerne ein Auto. Egal. Ich mag es zu Fuss zur Arbeit zu gehen. Es ist ja nicht weit und ich kann auch dabei immer ausatmen und denken. Es sind noch nicht viele Leute auf den Strassen. Ein paar Gesichter erkenne ich aber. Der Mann mit dem grummeligen Gesicht und der Aktentasche. Die Blondine, die um diese Uhrzeit immer joggen geht. Langsam komme ich näher an die belebten Strassen. Meine Fingerspitzen kribbeln. Wieso bebt die Erde?
2
Ich stehe auf.
Es ist kurz nach sieben. Meine Sicht ist noch verschwommen. Irgendwie farblos, fad. Es hilft aber nichts. Ich muss so, oder so aufstehen. Und dabei stolpere ich fast über den Kleiderhaufen am Boden. Ich hasse es so früh aufzustehen. Alles ist noch verklebt und die Morgenfäulnis dringt aus jeder Pore meines Körpers. Aufgestanden bin ich schon, jetzt muss ich mich nur noch anziehen und Zähneputzen. Ich habe Hunger, mein Magen zieht sich zusammen, aber der Kühlschrank ist leergefegt. Aus dem Kleiderhaufen ziehe ich ein paar Stücke, schaue kurz über meine heutige Kleiderauswahl, nur um zu entscheiden, dass es nicht zusammenpasst. Egal. Essen ist die Devise. Um den Block gibt es einen mickrigen Supermarkt. Dort muss ich hin. Im Supermarkt angelangt, hat es nur zwei Frühstücksoptionen ein Sandwich oder ein schimmeliges Sandwich. So viel Auswahl. Wie viel Zeit bleibt mir noch? Keine. Ich muss los. Mit dem Sandwich in der Hand stürme ich zur Arbeit. Zum Glück sind es nur 10 Minuten zu Fuss. Irgendein Idiot mit einem komischen Sinn für Mode rempelt mich an und entschuldigt sich nicht mal. Der kam mir irgendwie schräg vor. Bereit Etwas zurückzuschreihen drehe ich mich um. Die Person steht jetzt aber nicht mehr da. Ich schaue um mich und sehe sie am Boden. Leute laufen vorbei und schenken der Person nicht einmal einen Funken Aufmerksamkeit. Scheisse. Die Frau liegt reglos am Boden. „Geht es ihnen gut“ frage ich. Keine Antwort. Sie atmet schwer.
1
Ich kann mich nicht bewegen.
Ich versuche aufzustehen- aber meine Gliedmassen gehorchen mir nicht.
Ich versuch den Arm-es geht nicht
Ich drehe den Kopf-aber es geht nicht
Ich kann mich nicht bewegen.
Jemand fragt mich wie es mir geht.
Ich versuche zu antworten, dass es mir gut geht-aber es geht nicht
Ich versuche zu schreien-aber es geht nicht
Ich versuch zu brüllen-aber es geht nicht
Keiner hört mich.
Ich möchte die Augen öffnen-aber es geht nicht
Nichts geht mehr.
2
Sie atmet. Wieso wacht sie nicht auf? Was muss ich jetzt machen? Muss ich sie seitlich hinlegen? Kann mir denn niemand helfen? Wieso laufen alle nur weiter? Schnell. Wo habe ich das Handy? Hier. Eins-Vier-Vier. „Notrufzentrale, was ist ihr anliegen?“, fragt jemand an der Leitung. „Eine Frau ist hinter mir umgefallen. Sie atmet noch und ich glaube sie ist bewusstlos. Können sie mir sagen, was ich tun muss?“, bitte ich sie. „Wie lange ist sie schon bewusstlos?“ „Ich weiss es nicht. Vielleicht 5 Minuten.“ „Okay, ich sende eine Ambulanz zu ihnen. Wo sind sie?“ „Ich bin gerade in der Burgfelderstrasse, hinter dem Kannenfeldpark.“ „Gut. wenn sie keine Atmung oder Puls mehr spüren, beginnen sie bitte mit der Reanimation.“
1
Leere.
Ich weiss nicht, was ich tun soll.
Ich bestehe aus Gedanken. Ist das der Grund wieso mich keiner hört, wenn ich versuche zu schreien? Sollte das so sein? Ich weiss nicht.
Sollte ich mich bewegen können, wenn es versuche? Ich es nicht.
Bin tot? Ich..
2
Die Frau hat gesagt, sobald sie nicht mehr atmet, soll ich mit der Reanimation beginnen.
Wann kommt eigentlich die Ambulanz? Wie lange sollte das dauern? Was wird mein Boss sagen, wenn ich so viel zu spät zur Arbeit komme? Warum hilft mir immer noch keiner der Passanten? Was glotzen die nur so blöd rum? Vielleicht sollte ich nochmals ihren Puls spüren? Ja.
Ich führe meine Hand an ihre Hauptschlagader am Hals. Und spüre: NICHTS.
Ich muss sie wiederbeleben. Mit zitternden Händen öffne ich den Reissverschluss ihrer Jacke. Nun beginne ich damit meine Hand an ihren Brustkorb zu legen. In einem stetigen Rhythmus starte ich die Reanimation. Nach einer gefühlten Ewigkeit kommt die Ambulanz, aber alles fühlt sich surreal an. Ich bin wie in Trance. Die reifen quietschen, die Sirenen dröhnen und sie sind weg. Was übrig bleibt ist nur noch mein Zustand. Ich weiss nicht, ob die Reanimation etwas gebracht hat, beziehungsweise, ob sie noch lebt. Wer war sie? Was war wohl mit ihr los? Wie schnell das ging. Sie hat mich doch eben noch angerempelt. Ich konnte mich noch nicht einmal umdrehen, da lag sie schon am Boden. Könnte das auch mir passieren? Habe ich eine Schuld daran, was ihr passiert ist? Ich drehe meinen Kopf. Die Leute laufen, ohne zu wissen was geschehen ist an mir vorbei. Manche schauen mich irritiert an, manche ignorieren mich. Die Sonne wärmt meinen Nacken, als ob sie mich streicheln würde. Wie gut sich das anfühlt, diese Sonne. Ich weiss nicht, ob diese Frau das jemals wieder spüren darf. Ich stehe auf und spüre den Boden unter meinen Füssen. Der Himmel ist klar. Es sind nur vereinzelte Wolken da. Die Eindrücke der Welt prasseln auf mich herab: dieser Haufen von Menschen, die ganzen Geräusche, die sie von sich geben. Auch die Geräusche von anderen Sachen, wie den Autos, Vögel und das Pfeiffen des Windes. Fast schon wie ein Lied, so schön. Ich möchte mich Davon tragen lassen. Ich möchte mich von den Bildern und bunten Farben, die ich wahrnehme, tragen lassen. Das tue ich auch. Wie gut sich das anfühlt. Diesem Gefühl möchte ich nachgehen. Ich gehe diesem Gefühl nach. Es ist wie ein Farbenmeer, das habe ich heute morgen noch nicht gespürt, gesehen, gerochen, gehört, geschmeckt. Ich verlasse meine graue Welt.
Klara
Was Wäre Wenn?
„Ich bin nicht dein Pfleger“, eine leise Stimme erfüllt den Raum und lässt mich bis ins Mark erschauern, während sie gegen die dünnen Fensterscheiben klirrt. Ich drehe mich gerade rechtzeitig in meinen Bett um, um zu sehen, wie eine aderige, knochige Hand die Tür schließt, bevor sie sich wieder in den Schatten zurückzieht. Ich setze mich mühsam auf und reibe mir die Augen und frage mich, ob ich mir das einbilde. Vielleicht bin ich einfach nur müde. Ich blicke blinzelnd auf meine alte, abgenutzte Digitaluhr. Es ist drei Uhr morgens. Ich bin sofort alarmiert und Blut rauscht in meinen Ohren. Ich taste verzweifelt mit meinen Händen herum und versuche, etwas zu greifen, um mich zu schützen. Adrenalin fliesst durch meinen Körper. Das kann nicht— Ich habe noch nicht—
„Wieso“, fragt die Stimme aus die Ecke vom kleinen Raum, „versuchst du dich von mir zu schützen? Eigentlich müsste es doch andersherum sein, oder nicht?“ Ein Mann tritt aus dem Schatten, und das Mondlicht fällt auf ihn, doch sein Gesicht ist immer noch von einer Kaputze bedeckt. Ich blicke flüchtig auf den alten Boden, und versuche harmlos zu wirken. „Bitte“, wimmere ich, „ich sterbe schon. Nimm einfach meine Sachen und gehe. Lass mich alleine. Ich möchte nur in Ruhe sterben.“
„Alleine. In Ruhe. Das ist es, ewas du schon immer wolltest, nicht wahr?“ Der Mann lässt ein bitteres Lachen ertönen. Jetzt bin ich verwirrt. Meine Augenbrauen kneifen sich zusammen, und eine neue Welle der Angst trifft mich. Ich versuche es nochmal: „Bitte—“ „Nein“, der Mann unterbricht mich, „Erkläre es mir. Bitte.“ „B-Bitte erkläre was?“, ich stammele. Mein Blick bleibt auf den verrottenden Holzboden. Der Mann tritt näher und beugt sich nach unten, um mir in die Augen zu schauen. Dabei lüpft er seine Kaputze und fragt: „Wie konntest du mir das antun?“
Schock und Verblüffung überkommen mich, und endlich schaue ich ihm in seine dunkle, braune Augen und erkenne, wer er ist. Dunkle, dünne Haare, mit einigen weissen Stellen. Ein viel zu dünner Körper. Knochige Hände. Ich atme aus und murmle leise: „Du bist ich.“ „Nein“, flüstert der Mann zurück, und seine Stimme wird härter, als er zum Fenster tritt, „ich bin nicht du. Du hast schon dafür gesorgt, dass das nie passiert ist.“ Er dreht sich wieder zu mir, und streckt eine Hand aus — meine Hand und sagt: „Komm mit. Wir müssen reden.“
Ich starre den ausgestreckten Hand an. Ich schaue auf und sehe sein Gesicht ist vor Schmerz und Trauer verzerrt. „Wohin?“, frage ich, und mein gesunder Menschenverstand überflutet mein Gehirn wieder. „Wer bist du, wenn du nicht ich bist?“ Ich huste, ein schreckliches, elendes Geräusch, das mich dazu bringt, Blut auf meine rauen, fleckigen Laken zu spucken. Mitleid füllt seine Augen, und er öffnet seinen Mund, um zu sprechen, aber ich sage einfach: „Warte.“ Halluziniere ich etwa gerade? Ist das wirklich das Ende? Ich schliesse meine Augen, meine schweren Augenliedern fallen zu als ich nach meiner Hand greife.
„Ist gut“, murmele ich. Ich höre ein erleichtertes Seufzen in meinem rechten Ohr und spüre dann ein leichten Druck auf meiner Hand. Als ich meine Augen wieder öffne, bin ich nicht mehr in meinem Schlafzimmer. Jetzt stehe ich in einem Wohnzimmer, aber ich stehe nicht wirklich in meinem Wohnzimmer. Ich schaue mich um, und meine Augen landen schliesslich auf den warmen Holzwänden. Sie sind mit goldenen Bilderrahmen geschmückt. Auf den Fotos ist eine Familie zu sehen. Ich bin auf den Fotos. Auf dem einen schubse ich ein kleines Mädchen auf der Schaukel an. Wir lachen beide. Auf dem anderen stehe ich mit zwei Jungs an einem sonnigen Strand. Wir spielen einander einen Fussball zu. Auf dem Foto ganz oben, sehe ich eine Frau und mich abgebildet. Wir stehen in Paris vor dem Eifel Turm und lächeln. Ich war noch nie in Paris. Ich habe schon immer davon geträumt, aber ich bin nie gegangen weil—. Plötzlich spüre ich, wie jemand meine Schulter stubst. „Schön, nicht wahr?“, fragt der Mann mich und dreht sich von der Wand weg zu mir. Er nickt Richtung Sofa, und setzt sich auf einen alten, quietschenden Schaukelstuhl. Der Mann winkt mir zu, also setze ich mich zögernd auf das samtige Sofa. Auf meiner rechten Seite rauscht ein glühendes Feuer. Es füllt den Raum mit Wärme und riecht nach Tannenbäumen.
Ich versuche mich zu überzeugen, dass das alles echt ist. Die Wörter purzeln aus mir heraus bevor ich sie aufhalten kann: „Ist das— bist du eigendlich echt?“ Der Mann starrt mich einfach an, seine Augen voller Emotion, die ich nicht einordnen konnte. Sein Gesicht aber, bleibt still als er sagt: „Du bildest dir mich vielleicht ein, aber wieso soll das heissen, dass ich weniger echt bin? Eigendlich hast du aber recht, ich bin nicht echt. Wenigstens nicht in dieser Welt, was eigentlich deine Schuld ist“, fügt er scharf hinzu, als ob mir das etwas bedeuten sollte.
„Es tut mir Leid“, flüstere ich, „aber ich verstehe immer noch nicht, was du mir sagen möchtest. Wieso ist es meine Schuld? Wieso ist immer alles meine Schuld?“ Ich werde immer wie wütender, meine Stimme immer wie lauter und ich balle meine Fäuste zusammen. „Was habe ich dir angetan?“ Er legt den Kopf schief. „Du verstehst es wohl also wirklich nicht“, murmelt er vor sich hin. Er starrt, und seine braunen Augen treffen auf meine. „Es ist nicht was du gemacht hast. Es ist was du nicht gemacht hast. Du hast nie versucht, wieder mit deiner Familie zu reden, als du weggezogen bist. Du bist nie nach Paris gereist. Du hast nie wieder mit der Frau gesprochen, die du doch immer so gerne hattest.“ Seine Stimme wird immer wie lauter und bitterer. „Du hast nichts riskiert. Du hast nie gehofft. Gewollt. Geträumt. Gefühlt. Du hast mich nie fühlen lassen.“ Seine Stimme bricht ab. Er lässt seinen Kopf hängen und wischt seine Tränen weg. Ich bin einfach nur stumm.
Wir sitzen schweigend, bis er abrupt aufsteht und brüllt: „Wieso? Wieso bin ich nie echt geworden? Wieso bist do so ein erbämlicher, schwacher Mann? Ich verstehe einfach nicht, wie wir beide aus der gleichen Seele enstanden sind. Ich kann es einfach nicht verstehen. Wieso hast du nichts mit deinem Leben angefangen? Du hattest alles. Alles! Hörst du mich? Du hattest das einzige, was ich nie hatte. Und was hast du gemacht? Du hast es verschwendet. Du hast darauf gespuckt, und bist darauf getreten, als ob es nichts wert wäre. Du hast dein Leben als Fluch statt als Geschenk gesehen, und ich musste dir bei deinem Mitleid zuschauen. Statt zu leben hast du einfach nur überlebt.“ Ich sitze einfach nur da auf diesem hässlichen Sofa, benommen, und höre ihm zu, wie er mich über mein Leben beschimpft. Ich sehe rot vor Wut und springe auf: „Du hast kein Recht“, schreie ich, „mir zu sagen, was ich alles in meinem Leben falsch gemacht habe. Du hast keine Ahnung, wie es ist, das zu erleben, was ich erlebt habe.“ Aufgestaute Wörter fliessen mir frei durch den Mund: „ Du hast kein Recht, mir zu sagen was ich hätte machen sollen, was ich werden konnte, wer ich hätte sein sollen.“ Doch“, flüstert er, und nimmt einen Schritt in meine Richtung, „das habe ich. Vielleicht habe ich nicht das durchlebt, was du durchlebt hast, aber immerhin habe ich zugeschaut. Jahrenlang. Dein ganzes Leben habe ich dir zugeschaut. Ich bin mit dir aufgewachsen. Und jetzt werede ich zuschauen, wie du alleine stirbst. Du hast mich nie wahrgenommen, mir nie eine Chance gegeben, etwas Großartiges zu werden. Du hättest etwas Grossartiges werden können. Du hattest einfach Angst.“
Ich fange an zu heulen. Meine Schultern sind eingesunken. All die Jahre, die ich in Angst verbracht habe, belasten mich, und plötzlich geben meine Knie unter dieser Last nach. Ich sinke auf den Boden und schluchze. Ich kann einfach nicht aufhören zu weinen. Ich realisiere auf ein mal, alles was ich aus Angst nicht gemacht habe. Was ich hätte machen können. Mein ganzes Leben lang, hatte ich einfach nur Anst. Ich hatte eine schreckliche Furcht, zu scheitern, weil ich dachte, dass ich nichts schaffen würde. Jetzt erkenne ich auf einmal, dass mein Versagen war, nichts zu machen. Und jetzt, werde ich nie wissen, was hätte sein können.
Langsam öffne ich meinen Augen wieder. Ich liege wieder im Bett, meine vom Blut befleckten Bettwäsche ist plötzlich wieder sauber. Ich sinke in das weiche Bett und denke, was alles gerade passiert ist. Ich lächle. Ich schaue wieder auf meinen Nachttisch und nehme das Telefon in die Hand. Es ist drei Uhr morgens. Diesen letzten Wunsch kann ich mir noch erfüllen. Meine Finger tippen die mir bekannte Nummer ein. Ich habe es schon so oft gemacht, dass ich sie memorisiert habe. Jetzt, habe ich das gemacht, wozu ich nie Mut hatte. Ich tippte auf anrufen. „Hallo?“, eine klare, wunderschöne Stimme antwortet auf der anderen Seite. Ich lächle.
Anya
Das Ende?
Ich öffne langsam meine Augen. Das grelle Licht blendet mich. Im Nebenzimmer höre ich leise Stimmen, sie sind aber so leise, dass ich nicht genau hören kann, was sie sagen. Während ich versuche aufzustehen, nerve ich mich über den Gestank des Desinfektionsmittels und das durchdringende Piepsen der Geräte um mich herum. Plötzlich fährt ein stechender Schmerz durch meinen rechten Arm. Als ich auf meinen Arm sehe, erblicke ich eine Kanüle in meinem Arm und dann holt mich mein Leben wieder ein. Ich bin krank, schwer krank. Und ich bin kurz vor … „Opa Opa“. Ich erschrecke und sehe zum Türrahmen auf. Im Türrahmen stehen ein Mann, eine Frau und zwei Jungen. Ich erkenne sie sofort. Es sind mein Sohn, seine Frau und seine Söhne, sprich meine Enkelkinder. Sie besuchen mich jede Woche seit ich im Krankenhaus bin. Sie haben mir vor allem durch die schwere Anfangszeit meiner Krebsdiagnose sehr geholfen. Die Diagnose war am Anfang ein enormer Schock für mich gewesen. Ich war immer sehr aktiv gewesen, weshalb ich aufgrund meiner Krankheit viele meiner Hobbys aufgeben musste. Durch den Ansturm der beiden Jungen schrecke ich aus meinen Erinnerungen auf. „Opa erzähl uns eine Geschichte“, betteln die beiden Jungen. „Na gut“, entgegne ich. Ich beginne meine Geschichte mit: „Es war einmal“ … „Herr Müller“. Schon zum zweiten Mal an diesem Tag sehe ich zum Türrahmen auf und schon wieder befindet sich jemand darin. Dieses Mal ist es aber nur eine Frau, auch sie erkenne ich wieder, es ist die Oberärztin, die für mich zuständig ist. „Wir wären dann soweit“, sagt sie. Während sie dies sagt, geleitet sie meine Familie hinaus. Ich kann mich nur noch mit einem leisen „bis nächste Woche“ verabschieden. Während ich langsam von der Oberärztin durch das ganze Krankenhaus geschoben werde, gehen mir tausend Dinge durch den Kopf. Werde ich meine Familie je wiedersehen? Soll ich dies wirklich tun? Hätte ich meine Familie fragen sollen? Ist solch eine gefährliche Operation wirklich der einzige Ausweg? Wieso musste es mich treffen? Habe ich ein gutes Leben gelebt? Ich spüre, wie mir vor lauter Fragen ganz schlecht wird. Und doch sind sie allgegenwärtig. Ich versuche mich auf positive Gedanken zu konzentrieren. Die Operation wird gut verlaufen und ich werde sie alle wieder sehen. Dann können sie mich immer noch jede Woche besuchen, aber jetzt wieder zu Hause, in meiner gewohnten Umgebung. Und ich werde den Jungen noch viele Geschichten erzählen können, bevor es mit mir endgültig vorbeigeht. Vielleicht könnte ich eines meiner alten Hobbys wieder aufnehmen. Ich könnte mit den Jungs Fussball spielen oder ihnen beibringen Tennis zu spielen. Durch all die positiven Gedanken beruhigt, beginne ich mich zu entspannen. Wir halten vor einer eisernen Tür, auf einem kleinen Schild daneben steht OP-Saal 7, vielleicht das letzte dass ich sehen werde, ich schüttle den Gedanken schnell ab. Es wird alles gut verlaufen. Mit diesem positiven Gedanken werde ich in den OP-Saal geschoben. Aber als man mir die Beruhigungsmittel gibt, ist da nur noch ein letzter Gedanke: Waren dies meine letzten Stunden?
Cédric